Carbon Management in Deutschland (I): plötzlich klima- und industriepolitische Notwendigkeit?

Dies ist der erste Artikel einer Serie über das Potenzial der Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung (CCUS) in Deutschland, die carboneer in den kommenden Wochen veröffentlichen wird.

In diesem Artikel betrachten wir die Auswirkungen eines klimaneutralen Deutschlands im Jahr 2045 auf die Nachfrage nach Kohlenstoffmanagement und CCUS. Das Thema wurde in öffentlichen Debatten lange Zeit vernachlässigt, erlebt jedoch kürzlich eine Wiederbelebung. CCUS kann zwei Zwecke erfüllen: (i) die Dekarbonisierung industrieller Anlagen unterstützen und (ii) insbesondere die chemische Industrie mit CO2 als Rohmaterial für die Produktion von Grundstoffen versorgen.

Eine kurze Geschichte der CCUS-Politik in Deutschland

Während die Erforschung großtechnischer unterirdischer CO2-Speicherung im Jahr 2004 am Pilotstandort Ketzin nahe Berlin begann, sind industrielle Kohlenstoffmanagementaktivitäten in Deutschland bis heute praktisch nicht vorhanden. Die Richtlinie der Europäischen Union zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS Directive) von 2009 legte den Rahmen für die Umsetzung entsprechender nationaler Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten fest. Das deutsche Kohlendioxid-Speicherungsgesetz (KSpG) trat im August 2012 in Kraft (vgl. Abbildung 1), schaffte jedoch keine günstigen Bedingungen für CCUS-Anwendungen.

Die Debatte um CO2-Speicherung in Deutschland war zu dieser Zeit eng mit der Fortführung der Stromerzeugung aus Kohlekraftwerken verbunden und stieß auf starken öffentlichen Widerstand. Die Ausweitung der erneuerbaren Energien stand im Mittelpunkt der Treibhausgasminderung, und CCUS-Anwendungen wurden insbesondere hinsichtlich Kosten- und Sicherheitskriterien als riskant angesehen. Unter dem Einfluss allgemeiner Skepsis gegenüber CCUS erlaubte das KSpG nur Anwendungen mit Speicherkapazitäten unter 1,3 Millionen Tonnen CO2, und die meisten Bundesländer verboten die unterirdische CO2-Speicherung. Bis zum gesetzlichen Stichtag für Projektanträge Ende 2016 wurde kein einziges kommerzielles Speicherprojekt entwickelt. In Deutschland ist es daher derzeit nicht möglich, CO2 unterirdisch zu speichern, und es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Abscheidungs- und Nutzungsprojekten (CCU).

Carbon Management ist in Deutschland erst kürzlich wieder in die politische Arena zurückgekehrt. Das industriell geprägte Nordrhein-Westfalen veröffentlichte 2021 seine Kohlenstoffmanagementstrategie, und die nationale Carbon Management Strategie wird derzeit vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) entwickelt. Wir haben die Themen der nationalen Carbon Management Strategie in diesem Artikel ausführlich behandelt.

Abbildung 1: Relevante Ereignisse für Carbon Management in Deutschland (Quelle: carboneer)

Kohlenstoffmanagement als zentrale Komponente der Klimaneutralität

Mit ehrgeizigeren Klimazielen auf EU- und deutscher Ebene wird immer deutlicher, dass Klimaneutralität bis Mitte des Jahrhunderts oder gar bis 2045 ohne groß angelegte Abscheidung, Nutzung und langfristige Speicherung von CO2 nicht erreicht werden kann. Während CCUS in der deutschen politischen Entscheidungsfindung langsam an Bedeutung gewinnt, kommt die akademische Forschung einhellig zum Schluss, dass Carbon Management – also CCUS sowie Kohlenstoffentnahmen aus der Atmosphäre (Carbon Removal) – notwendig ist, um die nationalen Klimaziele zu erreichen. Da der Stromsektor weitgehend durch den Ausbau erneuerbarer Energien dekarbonisiert werden kann, wird der Fokus von Carbon Management in Deutschland vor allem auf dem Industriesektor liegen. Insbesondere prozessbedingte Emissionen sind schwer zu reduzieren und können in manchen Fällen nur durch CCUS verhindert werden. Abbildung 2 zeigt die Prognosen von fünf Forschungsprojekten über die Mengen und Quellen von abgeschiedenem CO2 im Jahr 2045, also wenn Deutschland Klimaneutralität anstrebt.

Abbildung 2: CO2-Abscheidung nach Anwendung und Quelle im Jahr 2045 (2050 für BMWK) (Quelle: carboneer, Datenquellen: Agora: Prognos, Öko-Institut, Wuppertal-Institut (2021), BDI: BCG (2021), dena: Deutsche Energie-Agentur (2021), BMWK: Fraunhofer ISI et al. (2022), Ariadne: Luderer, Kost and Sörgel (2021))

Der Aufbau von Abscheidekapazitäten zwischen 35 und 70 Mt CO2 in verschiedenen Industriezweigen, also etwa 5-10 % der aktuellen deutschen Treibhausgasemissionen, erfordert gezielte und erhebliche Investitionen in den kommenden zwei Jahrzehnten. Diese Investitionen werden nur realisierbar, wenn eine entschlossene politische Entscheidung ein förderliches Investitionsumfeld sowie klare Regeln und Leitlinien zu nachfolgenden Themen schafft:

  • Anreizmechanismen für Abscheidung, Nutzung und Speicherung
  • Bereitstellung und Regulierung von Transport- und Speicherinfrastrukturen
  • Regulierung von CO2-Importen und -Exporten
  • Treibhausgas-Bilanzierung (insbesondere bei CCU-Projekten)

Vom Abfall zum Rohstoff: Wie viel Speicherbedarf für CO2 besteht tatsächlich?

Während wir in den kommenden Artikeln dieser Serie einen detaillierten Einblick in die Bedingungen und Dynamiken von CCUS in verschiedenen Industriezweigen geben, möchten wir bereits jetzt Erkenntnisse unserer Analyse vorstellen. Das technische Potenzial für die Abscheidung von CO2 in den relevanten Industrien (Stahl, Zement, Kalk, Chemikalien, Müllverbrennung) in Deutschland beträgt 40-50 Mt CO2. Hier berücksichtigen wir nur prozessbedingte Emissionen, da insbesondere die energiebedingten Emissionen durch andere Lösungen wie erneuerbare Energien, Elektrifizierung oder grünen Wasserstoff dekarbonisiert werden können und müssen.

Auf der anderen Seite wird der Bedarf an CO2 in der chemischen Industrie in Deutschland im Jahr 2045 auf etwa 50 Mt CO2 geschätzt. Dies weist bereits auf ein neues Paradigma und nötiges industrielles Ökosystem hin, in dem CO2 nicht unbedingt im Norden Deutschlands unter der Nordsee oder gar exportiert nach Norwegen, Dänemark oder den Niederlanden gespeichert wird. Ganz im Gegenteil, CO2 könnte eine knappe Ressource im industriellen Kohlenstoffkreislauf werden und die Nachfrage nach CCU-Projekten erhöhen. Darüber hinaus erlaubt das aktualisierte EU-Emissionshandelssystem den regulierten Unternehmen die Verwendung von CCUS anstelle der Abgabe von Emissionsrechten. Zweifellos erhöht diese Option die Relevanz und Nachfrage nach CCUS-Anwendungen.

Die Berücksichtigung von Wechselwirkungen zwischen Politikbereichen und neuen industriellen Paradigmen ist entscheidend für ein erfolgreiches Kohlenstoffmanagement auf nationaler und EU-Ebene. Themen, die weitere Analysen erfordern, sind unter anderem:

  • Notwendige CO2-Transportkapazitäten innerhalb Deutschlands und Europas
  • Erforderliche Speicherkapazitäten in Europa
  • Qualitätskriterien von CO2 bei Transport und Nutzung
  • Synchronisierter Aufbau von Abscheidungs-, Transport- und Speicherkapazitäten
  • Entwicklung von Kohlenstoffmanagement-Clustern in der Industrie

Der nächste Artikel in dieser Serie über Carbon Management in Deutschland befasst sich mit den industriellen Emissionen, dem CCS-Potenzial in verschiedenen Branchen und den Kosten für CCS befassen. In der Zwischenzeit können Sie sich gerne mit Feedback und Fragen zum Thema an uns wenden.

Dieser Artikel basiert auf einer Studie von carboneer für den Trade Commissioner Service der Botschaft von Kanada in Deutschland.

Quellen:

BCG (2021) Klimapfade 2.0: Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft, Gutachten für den BDI. Available at: https://​web-assets.bcg.com​/​58/​57/​2042392542079ff8c9ee2cb74278/​klimapfade-​study-​german.pdf (Accessed: 25 March 2023).

Bundesregierung (2022) Evaluierungsbericht der Bundesregierung zum Kohlendioxid-Speicherungsgesetz: Drucksache 20/5145. Available at: https://​dserver.bundestag.de​/​btd/​20/​051/​2005145.pdf.

Deutsche Energie-Agentur (2021) dena-Leitstudie Aufbruch Klimaneutralität: Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Available at: https://​www.dena.de​/​fileadmin/​dena/​Publikationen/​PDFs/​2021/​Abschlussbericht_​dena-​Leitstudie_​Aufbruch_​Klimaneutralitaet.pdf (Accessed: 27 March 2023).

Fraunhofer ISI, Consentec and ifeu (2022) Langfristszenarien für die Transformation des Energiesystems in Deutschland: Modul 3: Referenzszenario und Basisszenario, Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Available at: https://​www.langfristszenarien.de​/​enertile-​explorer-​en/​ (Accessed: 25 March 2023).

Luderer, G., Kost, C. and Sörgel, D. (2021) Deutschland auf dem Weg zur Klimaneutralität 2045 – Szenarien und Pfade im Modellvergleich: PIK: Potsdam-Institut fur Klimafolgenforschung. Available at: https://​policycommons.net​/​artifacts/​1860013/​deutschland-​auf-​dem-​weg-​zur-​klimaneutralitat-​2045/​2607518/​ (Accessed: 28 March 2023).

Prognos, Öko-Institut, Wuppertal-Institut (2021) Klimaneutrales Deutschland 2045. Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor 2050 erreichen kann: Zusammenfassung im Auftrag von Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende. Available at: https://​www.agora-energiewende.de​/​veroeffentlichungen/​klimaneutrales-​deutschland-​2045 (Accessed: 25 March 2023).

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